Dachsanierungen: Bei der Sanierung der Villa Cassel inmitten der Alpen stellten die alpine Lage und eine komplexe Dachgeometrie die Spengler vor besondere Herausforderungen. Es galt, Dehnungsbewegungen durch enorme Temperaturschwankungen zu ermöglichen und die Schubkräfte der Schneelasten am Dach zu managen.
Die Villa Cassel wurde im Kanton Wallis im Auftrag des deutsch-englischen Bankiers Sir Ernest Cassel aus London von 1900 bis 1902 im viktorianischen Stil erbaut. Sie thront am Südhang der Berner Alpen in der Gemeinde Riederalp auf 2.100 Meter über dem Meer, dicht neben dem großen Aletschgletscher, und war bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges Sommerresidenz. Nach dem Tod Sir Ernest Cassels im Jahr 1921 erbte seine Enkelin Edwina Ashley (spätere Vizekönigin von Indien) das Anwesen und verkaufte es drei Jahre später an die Hoteliers Familie Cathrein. Diese gab den Hotelbetrieb 1969 auf, worauf der Zerfall der Villa einsetzte. 1973 erwarb der damalige Schweizerische Bund für Naturschutz, die heutige Pro Natura, die historische Villa samt Nebengebäude und Grundstück. Nach der umfassenden Sanierung eröffnete 1976 hier das erste Naturschutzzentrum der Schweiz „Pro Natura Zentrum Aletsch“ seine Pforten. Es ist eines von zwei nationalen Zentren der Pro Natura und widmet sich der Umweltbildung. Die Villa Cassel wird heute als Naturschutzzentrum für den Aletschwald und das Weltnaturerbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch genutzt. Sie ist der Ausgangspunkt für Exkursionen und bietet Ausstellungen, Veranstaltungen, Seminare, Erlebnisangebote sowie Übernachtungsmöglichkeiten für 60 Personen an. Als Ausflugsziel trägt die Villa zur Attraktivität der Riederalp und der Aletsch Arena bei.
Sanierungsziel: CO2-neutral
Im Sommer 2019 wurde die Villa Cassel umfassend modernisiert und energetisch ertüchtigt. Ziel war es, das Naturschutzzentrum ab 2020 CO2-neutral betreiben zu können. Um dies zu erfüllen, erwies sich in den Vorplanungen das Luft-Wasser-Wärmepumpensystem als am besten geeigneter Energieträger. Dies ergab sich im Vergleich zu anderen Systemen zudem als wirtschaftlichste Alternative. Durch die günstigen Erschließungs- und Installationskosten sind Luft-Wasser-Wärmepumpen als Neuanlage und für den nachträglichen Einbau im Rahmen einer Modernisierung geeignet (siehe Infokasten). Die Stromversorgung der Wärmepumpe an der Villa Cassel erfolgt bei einem Jahresmittel von etwa fünf Sonnenstunden pro Tag mittels Fotovoltaikanlage. Da das historische Bauwerk unter Denkmalschutz steht, wurde die Anlage extern auf anderen Dächern installiert. Im Zuge der Sanierungsplanungen überarbeiteten Planer und Bauherrschaft auch das bestehende Raumkonzept. So werden im neuen Informations- und Vermittlungsraum Besucher über die Natur und Umwelt informiert. Im Fokus stehen die aktuellen Themen Gletscherschwund, Klimawandel und Energiewende. Da aufgrund der Denkmalschutzauflagen die CO2-Neutralität auch bei optimaler technischer Ausrüstung im Winterbetrieb nicht erreicht werden kann, ist das Zentrum konsequenterweise nach wie vor nur im Sommer geöffnet.
Vorteil Metalldeckung
Im Zentrum des beauftragten Spengler Fachbetriebes G. Bosshard AG Gebäudehülle und Haustechnik aus Altdorf stand jedoch die Gesamtsanierung der 45 Jahre alten Dachkonstruktion. Aufgrund der komplexen Dachgeometrie und der hochalpinen topografischen Lage war es die beste Wahl, das Dach mit Kupferblech im handwerklichen Doppelstehfalzsystem zu decken. Hiermit konnten alle Anschlüsse, Übergänge und Knickpunkte regendicht und sturmsicher angeformt und befestigt werden. Das aus allen Richtungen einsehbare und spenglertechnisch anspruchsvolle Kupferdach mit seinen 38 Teilflächen besteht aus:
- 600 m² Mansardendachflächen, neun markanten Lukarnen mit Turmspitzen,einer kaum sichtbaren Schleppgaube (Lukarne), sowie einem Kegel- und einem Pyramidenturm.
Dacheindeckungen aus Metall sind beständig und sehr widerstandsfähig gegen äußere Einflüsse. Der ökologische Fußabdruck der Metalle ist aufgrund des langen Lebenszyklus‘ kleiner im Vergleich zu vielen anderen Deckmaterialien. Zudem sind sie nach dem Rückbau zu fast 100 % recycelbar und können nahezu verlustfrei wiederverwendet werden – für die Bauherrschaft Gründe genug, wieder auf den Deckungswerkstoff Metall zu setzen. Da kam ihr die Auflage der kantonalen Denkmalpflege gerade recht, für die erforderliche Neudeckung des Daches das gleiche Material wie des Bestandsbaus zu verwenden. Kupfer passte auch optisch perfekt zur Gebäudearchitektur und der wildromantischen Umgebung. Für die Ausführung der Doppelfalzdächer, Dachrinnen, Anschlussbleche und Turmdeckungen wurden rund 7,5 t walzblanke Kupferbänder eingesetzt.
Typisch für das alpine Bauen ist auch eine bauphysikalisch sichere, hinterlüftete Dachkonstruktion mit einem Unterdach aus Kunststoff-Abdichtungsbahnen. Die Kupferdeckung erfolgte auf einer zudem offenen Holzschalung mit hohem Fugenanteil, sodass temporär auftretendes Leckagewasser stets schadlos abgeleitet wird. Die großzügig dimensionierte Hinterlüftung führt mögliche Restfeuchte problemlos an die Außenluft ab.
Materialdehnung: Bauteile entkoppeln
Die Villa Cassel befindet sich inmitten der Alpen, rund 2.100 m über dem Meeresspiegel. Die schneereiche alpine Lage und die komplexe Dachgeometrie stellten das Bosshard Team vor besondere Herausforderungen: In hochalpinen Gebieten treten extreme Windverhältnisse auf, zudem wirken auf die Deckung durch Schneelasten enorme Schubkräfte. Diese sorgen für Durchbiegungen der Dachkonstruktion – eine weitere Größe, die bei der Befestigung der Deckung berücksichtigt werden muss. Auch sorgen die häufig auftretenden Temperaturschwankungen für viel Bewegung der Doppelstehfalzschare. Höchste Priorität bei der Bauausführung bestand deshalb darin, die Übergänge zwischen den einzelnen Dachflächen so voneinander abzukoppeln, dass die Ausdehnung der Kupferbahnen zwängungsfrei funktioniert – kein Dachsegment durfte die angrenzenden Dachbereiche belasten. Die vielen Dachschrägen, Dachlukarnen (Lukarne = Gaube) und Übergänge wie Grate, Kehlen, Abtreppungen, Firste sowie die Dachdurchdringungen mussten exakt geplant und umgesetzt werden. Auch die Ausdehnung der Blechscharen in Längsrichtung durfte nicht behindert werden. So wurden anstelle doppelt eingefalzter Querfalze Dehnungsquerfalze mit Zusatzfalz ausgeführt.
Höhenlage: Der Sonderfall
Die aktuellen Normen und Fachregeln der Schweiz bei Gebäuden gelten bis 2.000 m Meereshöhe und trafen für die Villa Cassel nicht mehr zu. Die auszuführende Metalldeckung war somit als Sonderkonstruktion zu betrachten. Zwar gehören Schneefangeinrichtungen in der Region auf jedes Steildach, unter Berücksichtigung der objektspezifischen Gegebenheiten, der Gebäudenutzung und der rechtlichen Lage war es bei der Villa Cassel jedoch sinnvoll, diesen Bedarf zu hinterfragen. Nach Abklärungen mit dem Architekten und der Bauherrschaft wurde beschlossen, ganz auf eine Schneeverbauung am Dach zu verzichten; das Zentrum ist im Winter geschlossen und wird in diesem Zeitraum weder genutzt noch von Gästen besucht. Dachlawinen stellen in diesem Einzelfall somit keine Gefährdung dar. Der Verzicht auf den Schneefang lässt das freie Abrutschen von Schneemassen zu, was viele Vorteile bringt:
- die Dachkonstruktion wird statisch viel weniger belastet, Schubkräfte am Metalldach werden generell gemindert, Falzverformung durch Schneefanglaschen sind ausgeschlossen, und größere Achsmaße der Blechscharen sind realisierbar.
Schindeln für die Türmchen
Auch die Sanierung der beiden Türme mit achteckigem und kreisrundem Grundriss erfolgte im Einklang mit dem Denkmalschutz. Zur Ausführung kam Schindeldeckung aus Kupferblech, die eine ursprüngliche Deckung aus Holzschindeln ersetzt. Metallschindeln sind langlebig, widerstandsfähig, wartungsfrei und beständig gegen die in dieser Lage extremen Witterungseinflüsse. Auf dem kegelförmigen Turm der Villa Cassel wurden präzise gestanzte und mit Verzierungen geprägte Einzelschindeln in drei verschiedenen Breiten verlegt. Damit und mittels zweifacher Überdeckung war es möglich, die Schindeln passgenau an den gerundeten Grundkörper anzuformen. Zum Einsatz kamen Einzelschindeln des Typs Turris mit den Abmessungen (B x H):
- oberer Teil: ca. 400 Schindeln 88 × 135 mm, mittlerer Teil: ca. 450 Einzelschindeln 108 × 160 mm, unterer Teil: ca. 450 Einzelschindeln 138 × 210 mm
Als Trennlage wurde eine Unterdeckbahn verlegt, die gleichzeitig als Bauzeitabdichtung diente. Der zeitliche Aufwand für das Einteilen und Eindecken der 10 m² großen Kegelturmfläche betrug etwa 18 Stunden ohne den Turmsockel. Dieser musste im Doppelstehfalzsystem mit konischen Scharen ausgeführt werden.
Schindeln vom Band
Die Dreiecksflächen der imposanten achtseitigen Pyramide deckte das Spenglerteam der Firma Bosshard mit Schindelbändern des Typs Turris RG/18 im Rundschnitt-Großformat. Die Länge der Schindelstreifen aus Kupfer 0,60 mm beträgt 1,00 m, die Sichtbreite 80 mm. Für die Eindeckung des 65 m² großen Turmes wurden 1.100 Rundschnitt-Schindelbänder verlegt. Die Schindelbänder sind seitlich an die speziell gefertigte Gratleiste aufgestellt und, wie die Einzelschindeln vom Kegelturm, mit 25 mm langen Rillennägeln aus CrNi-Stahl auf Holz befestigt. Als Trennlage wurde auch hier eine Unterdachbahn als temporärer Bautenschutz verlegt. Den Gratabschluss bildet ein filigran gefertigtes Blechprofil, das sturmsicher befestigt ist. Für das Einteilen und das Eindecken der Pyramide einschließlich der Gratausbildungen wurden rund 240 Arbeitsstunden aufgewendet.
Das Objekt ist gemäß den Schweizer Brandschutzvorschriften der Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen (VKF) mit einer Blitzschutzanlage ausgestattet. Als natürliche Ableitungen dienen die Ablaufrohre. Als Fangeinrichtung genügten wegen des metallischen Deckmaterials die Installation von Verbindungs- und Überbrückungselementen zu den einzelnen Dachflächen und Dachrandprofilen. Der innere Blitzschutz wurde vom Elektroinstallationsunternehmen erstellt.
Perfekte Zusammenarbeit, beste Leistungen
Die Spenglerarbeiten auf der Riederalp waren etwas Besonderes – technisch, organisatorisch, körperlich und mental herausfordernd. Die Arbeiten haben in einer grandiosen und Kraft spendenden Umgebung stattgefunden. Für die Unterbringung der Monteure während der Bauzeit stellte die Bauherrschaft die geschichtsträchtigen Zimmer der Villa Cassel zur Verfügung. Während der viermonatigen Bauzeit gab es kaum witterungsbedingte Unterbrechungen. Die Zusammenarbeit zwischen Spengler, Zentrumsleiter Laudo Albrecht und seinem Team sowie Architekt Iwan Ruppen war einzigartig. Mit der mängelfreien Abnahme erhielt die Bauherrschaft ein einzigartiges Metalldach, an dem sie viele Jahrzehnte lang Freude haben wird. Architekt Iwan Ruppen: „Das Ziel eines CO2-neutralen Betriebs des Pro Natura Zentrums im historischen Gebäude setzte eine ganzheitliche planerische Herangehensweise voraus. Im Ergebnis bezieht das Energie-/Raumkonzept die unterschiedlichen Interessen seitens der Bauherrschaft, des Sicherheitsbeauftragten und der Denkmalpflege ein; so sind etwa die Sanierung der Außenhülle und die Realisierung des Brandschutzes verträglich umgesetzt.“